Freitag, 17. Januar 2020

Einführung: Das Terrain


Die Invalidenstraße ist von der deutschen und Berliner Geschichte durchzogen. Verstehen kann man die Straße erst, wenn man sich ein bisschen genauer damit beschäftigt, wie der Ort vor der ersten Besiedlung beschaffen war. Das soll, quasi als Einleitung, etwas genauer dargestellt werden. 

Wald und Sand  

Wenn man vor 270 Jahren an der Stelle gestanden wäre, wo jetzt der Invalidenpark ist, hätte man nicht allzu viel gesehen.
Man wäre außerhalb der Stadttore Berlins gewesen. Wenn man nach Westen gesehen hätte, wäre zur Linken die Stadtmauer gewesen, dahinter die Charité, die als Pesthaus erbaut worden war. Das Invalidenhaus war schon länger geplant, aber noch nicht verwirklicht. Auf der rechten Straßenseite sah man lediglich in einigen hundert Metern Entfernung direkt an der Panke eine Schleif- und Poliermühle, die Anfang des 18. Jahrhunderts dort gebaut worden war. Wenn man sich Richtung Westen drehte, hätte man auf einen Wald gesehen, davor war die damals noch hölzerne Sandkrugbrücke, die über den damaligen Schönhauser Graben führte. Links neben der Sandkrugbrücke war zunächst Menardies Weinberg (oder der „hohe Weinberg“), dahinter und daneben Pulvermagazine und Pulvermühlen. Richtung Osten sah man nur eine große unfruchtbare Sandfläche, die Stadtgrenze war weit im Süden. Diese Sandfläche oder Sanddüne war dadurch entstanden, dass der dort vorher stehende Wald abgeholzt wurde. Nach einer Quelle, für die Palisaden der damaligen Stadtmauer, nach einer anderen, um Brennholz für die Stadt zu haben. Was auch immer der Grund gewesen sein mag, der Norden Berlins, jenseits der Stadtmauer, bestand aus Sand. Bestelltes Feld kam erst wieder ab etwa dem Gebiet, auf dem jetzt der Weinbergspark liegt. Dort war damals Sparrens Weinberg, östlich davon begann wieder landwirtschaftlich bewirtschaftetes Gelände.

Blick vom Invalidenhaus nach Westen, Mitte des 18 Jhds.. Man sieht links die Sandkrugbrücke angedeutet, dort wo jetzt Moabit ist, ist nur Wald. (Bild gemeinfrei.)

Blick von der Sandkrugbrücke nach Osten, 1815. Man sieht das Invalidenhaus und den Schornstein der Eisengießerei.  (Bild gemeinfrei.)

Berliner Wein ist wie das Blut der Erde


1750 hätte also die Invalidenstraße an einem Weinberg begonnen und an einem Weinberg geendet. Berlin verbindet man nicht unbedingt mit einem Weingebiet, auch wenn der Berliner Wein in den letzten Jahren einen gewissen Aufschwung erfahren hat; es gibt inzwischen verschiedene Weinbauern im Stadtgebiet. Anders als vor ein paar Jahren noch darf der Wein sogar verkauft werden; man findet auch einige durchaus enthusiastische Rezensionen. Tatsächlich ist die Weintradition von Berlin schon sehr alt, seit dem 12. Jahrhundert wurde Wein angebaut. Man muss sich aber über die Qualität, die dem Trinker auf den Weinbergen der Invalidenstraße angeboten worden wäre, keine Illusionen machen. Der Berliner Wein galt als sauer, ihm wurden Gewürze zugegeben, damit er genießbar wurde. Der Berliner Weinanbau wurde wohl auch deswegen betrieben, weil der Import anderen Weines zu umständlich oder zu teuer gewesen wäre. Das änderte sich im 19. Jahrhunderts, deswegen wurden die Berliner Weinberge auch nach und nach aufgegeben. Der Weinbergspark an der Veteranenstraße erinnert zumindest noch mit seinem Namen an die frühere Nutzung. 

Das Invalidenhaus

Anfang des 18. Jahrhunderts gab es die ersten Pläne, für die dienstuntüchtigen preußischen Soldaten eine Versorgungsanstalt zu erbauen. Die Pestepidemie 1709 machte dann aber den Bau eines Pesthauses, der späteren Charité dringender. Deswegen entstanden südlich der Sandkrugbrücke die ersten Gebäude der Charité. Zunächst noch außerhalb der Stadtmauer, später dann aber innerhalb des Stadtgebiets. Mit der steigenden Beteiligung der Preußen an den europäischen Kriegen unter Friedrich II. wurde dann allerdings auch die Einrichtung eines Invalidenhauses wieder dringlicher, die Zahl der invaliden preußischen Soldaten ging Mitte des 18 Jahrhunderts in die Tausende. Friedrich II. entschied, dass das sandige Land östlich der Sandkrugbrücke für die Anlage geeignet war. Der Schönhauser Graben wurde ausgebaut, dass Schiffe Baumaterial liefern konnten, der Bau ging rasch voran. 1747 war Grundsteinlegung, 1748 war das Invalidenhaus im Wesentlichen fertiggestellt. Die Invaliden sollten sich selbst versorgen, deswegen gehörten zu dem Invalidenhaus weite Ländereien, die landwirtschaftlich genutzt werden sollten. Auch eine Brauerei war vorgesehen. Das Gebiet umfasste den Bereich von der jetzigen Scharnhorststraße im Westen bis zur Ackerstraße im Osten, nördlich begrenzt etwa in Höhe der jetzigen Ida-von-Arnim-Straße, im Süden noch einige 100 Meter über die Invalidenstraße hinausreichend. Das BND-Gebäude, der Nordbahnhof, der Dorotheenstädter Friedhof – all das liegt auf dem früheren Gelände des Invalidenhauses. 

Scheiße, Sand und Unkraut

Die Kultivierung des Areals des Invalidenhauses stellte durchaus ein Problem dar. Immerhin handelte es sich um ein Gelände, das im Wesentlichen aus Flugsand bestand. Friedrich II. sah die Möglichkeit, zwei Probleme auf einmal zu lösen. Innerhalb Berlins gab es noch keine Kanalisation. Nicht nur der Tiermist wurde einfach auf die Straße geschmissen, was nicht nur gesundheitsgefährdend war. Dieser Straßenkot, Modder genannt, wurde deswegen regelmäßig abgeholt und vor die Tore der Stadt gebracht. Der Straßenkot musste dann mit dem Sand vermischt werden. Damit das Gemisch fest wurde, wurde es mit Queckengras bepflanzt. In diesem Zusammenhang war die Fähigkeit der Quecke, aus kleinsten Wurzelstücken zu treiben und in kürzester Zeit lange Wurzeln zu bilden, von Vorteil. Einfache Arbeit war diese Art der Kultivierung aber nicht, vor allem wenn man bedenkt, dass sie von den Kriegsinvaliden ausgeführt werden sollte. Das Problem des Flugsandes wurde auch über lange Zeit nicht zufriedenstellend gelöst.

Friedrich Engels, der 1841 als Freiwilliger in einem Artillerie-Regiment diente, das seinen Exerzierplatz etwa dort hatte, wo jetzt das BND-Gelände ist, also westlich der Chausseestraße, schrieb seiner Mutter 1842 einen mauligen Brief darüber, dass man auf dem Exerzierplatz bis über die Knie im Sand versinke. 

Seide

Ein größeres Areal von der Panke bis zur jetzigen Habersaathstraße war für eine Maulbeerplantage vorgesehen, Maulbeerbäume wurden auch am westlichen Ende der Invalidenstraße angepflanzt. Maulbeerbäume gaben mit ihrem Laub die Nahrung für Seidenraupen. Preußen, wie die anderen europäischen Staaten auch, versuchte den eigenen Seidenanbau zu fördern, um unabhängig von Seidenexporten zu werden. Der Hintergrund war auch militärisch: Seide als strapazierfähiges Gewebe brauchte man für die Armeeausrüstung. Mitte des 18. Jahrhunderts gab es schon größere Maulbeerbaumplantagen in Berlin, etwa dort, wo jetzt das Schloss Bellevue steht und auch am westlichen Ende der Invalidenstraße. Um die Zeit gab es auch reiche Literatur zur Anleitung, wie z.B. Die Abhandlung zu den Maulbeerbäumen, den Seidenwürmern und dem Seidenspinnen, Nebst einem Anhang von dem Seidenbau in Berlin und der Churmark Brandenburg, von L. Pomier. In diesem Buch werden auch die acht Hauptfeinde der Seidenwürmer in Berlin genannt. Neben allerhand Arten von Spinnen, Baumwanzen, Ameisen, kleinen Vögeln und Feld- und Gartenmäusen werden auch „die Art Würmer, die eine Zange am Hintern haben“ genannt. Zumindest der Seidenanbau beim Invalidenhaus war kein Erfolg, daran waren allerdings wohl weniger die Würmer mit Zangen am Hintern als die klimatischen Verhältnisse in Berlin schuld. An der Invalidenstraße sollen über 2700 Maulbeerbäume angepflanzt worden sein, keiner hat sich erhalten. 

In Berlin gibt es allerdings noch einige Maulbeerbäume. Für einen, der wohl auch im 18. Jahrhundert gepflanzt wurde, muss man nur ein Stück weiter zur Friedrichstraße 129 gehen. Gegenüber vom Friedrichstadtpalast findet sich im Innenhof des Hauses (über die Claire-Waldoff-Straße) ein alter Maulbeerbaum, der schon gestützt werden muss. 



Vor den Toren der Stadt

Wenn man die Invalidenstraße heute entlang geht, fällt es einem schwer sich vorzustellen, dass die ganze Straße anfangs außerhalb der Stadtmauern lag. Die Straßennamen verraten es allerdings. Auf der Höhe des Invalidenparks liegt gegenüber der Platz am Neuen Tor. Zwei neue Gebäude an beiden Seiten der Luisenstraße, die als ziegelrote Würfel konzipiert sind, sollen das frühere Tor, von Schinkel entworfen, noch nachempfinden. Neues Tor deswegen, weil die Stadtmauer ursprünglich weiter südlich verlief, die Charité auch außerhalb der Stadt lag, 1800 allerdings die Stadtgrenze entsprechend verlegt wurde. Den damaligen Verlauf der Stadtmauer kann man nachverfolgen, wenn man die Hannoversche Straße entlang geht, bis zum Oranienburger Tor, man kann dann der jetzigen Torstraße (früheren Elsässer Straße) folgen, die in etwa den nördlichen Verlauf der Stadtmauer verfolgt, am früheren Rosenthaler Tor, Hamburger Tor und Schönhauser Tor entlang. 1866 bis 1869 wurde die Stadtmauer endgültig abgetragen. An der Hannoverschen Straße kann man sich heute das einzige erhaltene Stück der Stadtmauer ansehen. 


Skizze von Schinkel zum Neuen Tor. (Bild gemeinfrei.)


Moderner Verkehr

Die Lage nahe der früheren Stadtmauer, aber außerhalb der Stadt war auch ein Grund dafür, dass die Invalidenstraße ein wichtiger Eisenbahn-Standort wurde. 1842 wurde der Stettiner Bahnhof (an dessen Stelle der heutige Nordbahnhof ist) eröffnet, von dem die Züge in den Norden und an die Ostsee gingen, 1847 der Hamburger Bahnhof und 1868 der Lehrter Bahnhof, an dessen Stelle heute der Hauptbahnhof steht. Bei allen Bahnhöfen handelte es sich um Kopfbahnhöfe, eine Verbindung der Bahnhöfe wurde zwar versucht, musste wegen des steigenden Straßenverkehrs in der Invalidenstraße wieder aufgegeben werden.

Anfangs waren die Bahnhöfe aber durchaus im Nirgendwo angesiedelt. In einem Bericht von der ersten Stadtbahnfahrt 1882 (der 1911 im Vorwärts zitiert wurde) heißt es: „Die Haltestelle am Lehrter Bahnhof ist in geradezu genialer Weise an dieser Stelle errichtet worden. Soweit das Auge blicken kann, nirgends ein Gebäude, dessen Insassen diese Haltestelle benutzen könnten. Ich nehme nämlich an, dass die Insassen des Zellengefängnisses nicht Stadtbahn fahren, dass die Bewohner der Ulanenkaserne auch nur an Sonntagen hierzu Zeit haben und dass die Beamten des Kriminalgebäudes ebenso leicht zum Bahnhof Bellevue, als zum Bahnhof Lehrte gehen.“ 


Verlegung der Straßenbahnschienen in der Invalidenstraße

Militär und Staatsgewalt

Das Invalidenhaus war ohnehin eine Militäreinrichtung, entlang der Invalidenstraße gab es dann noch weitere Militärgebäude. 1848 wurde am westlichen Ende der Invalidenstraße die Ulanenkaserne, ein burgartiges Gebäude mit einer Vorderfront von 164 m gebaut, in der über 600 Soldaten und ebenso viele Pferde beherbergt wurden (man muss sich das Gebäude so ähnlich wie die noch bestehende Garde-Dragoner-Kaserne am Mehringdamm 20/22 vorstellen). Auf dem Gelände des Invalidenhauses gab es den Exerzierplatz, von dem wir schon wissen, dass er Friedrich Engels zu sandig war, daneben, an der Chausseestraße die Kaserne des Garde-Füsilier-Regimen. 

Neben der Ulanenkaserne wurde 1849 das Zellengefängnis Lehrter Straße gebaut, in dessen Hof auch Hinrichtungen durchgeführt wurden. Zuvor war seit 1753 zudem ein Richtplatz am heutigen Gartenplatz, dort fand die letzte Hinrichtung 1837 statt. Die Scharfrichterei war auch auf dem Gelände des Invalidenhauses, etwa von der heutigen Chausseestraße bis zum Nordbahnhof, dort wurde allerdings im Wesentlichen Tierkörperbeseitigung für Berlin betrieben. Auch eine wichtige hygienische Aufgabe, die anderen Anwohner klagten allerdings über den Gestank der von dieser Tätigkeit ausging. 


Zellengefängnis Lehrter Straße, oben links die Ulanenkaserne. Stich von 1855. (Bild gemeinfrei.)

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