Freitag, 17. Januar 2020

Prolog: Die Straße und ich



Erste Begegnungen

Als ich vor über 20 Jahren nach Berlin kam und wir nach langem Suchen eine Wohnung an der Brunnenstraße fanden, packte ich an einem der ersten Tage mein Fahrrad aus, um die Umgebung ein bisschen zu erkunden. Ich war es vom Studium her gewohnt, innerorts mit dem Fahrrad zu fahren, das ging schneller und war angenehmer und billiger als der öffentliche Nahverkehr. Ich fuhr die Brunnenstraße entlang und bog in die Invalidenstraße ein, die damals schon aus vielen Baustellen bestand.

Nach ein paar hundert Metern kehrte ich um, radelte zurück, stellte das Fahrrad in den Innenhof und ließ es dort stehen. Das Fahrradfahren auf dieser Straße kam mir komplett selbstmörderisch vor, dichter Verkehr, Baustellen, keine Radwege. Das war nichts für mich; seitdem bin ich im Wesentlichen zu Fuß oder mit den öffentlichen unterwegs. Das war meine erste frühe Begegnung mit der Invalidenstraße. Für eine kurze Zeit Anfang des Jahrtausends fuhr ich auch regelmäßig mit dem Auto durch die Straße, damals war die Invalidenstraße schon eine der überlasteten Verbindungen zwischen Osten und Westen. Wie immer in Berlin war das Autofahren trotz aller Baustellen eigentlich relativ entspannt, ganz anders als ich das von anderen großen Städten her kannte. Die Probleme haben in Berlin immer die anderen Verkehrsteilnehmer. 

(Aber schon im Juli 1914 berichtet der Vorwärts von Lebensgefährlichen Verkehrszuständen in der Invalidenstraße, fragt: Muss das alles so sein?, antwortet sich: Nein, und fragt zum Schluss noch: Wie viele Menschen sollen sich hier noch das Genick brechen? Eine Antwort ist nicht überliefert.)


(Typische Szene vor dem Verkehrsministerium)

Daten

Die Invalidenstraße ist eine etwa drei Kilometer lange Straße, die im Wesentlichen in west-östlicher Richtung verläuft, etwa zwei Kilometer nördlich der Straße des 17. Juni und von Unter den Linden. Die Invalidenstraße verbindet Moabit mit Mitte. Sie beginnt an Alt-Moabit, in der Nähe des Untersuchungsgefängnisses und endet in Mitte am Weinbergspark, kurz bevor der Prenzlauer Berg beginnt. Wikipedia weiß, dass die Hausnummern in Hufeisenform von Osten ab der Brunnenstraße nach West zur Straße Alt-Moabit und zurück verlaufen. Ihren derzeitigen Namen, der seit etwa 1800 gebräuchlich ist, hat die Straße von dem Invalidenhaus, das 1748 errichtet wurde. Vorher verlief hier schon seit dem 13. Jahrhundert der Spandauer Heerweg. Die Straße quert bei der Sandkrugbrücke den Berlin-Spandauer-Schifffahrtskanal und auf der Höhe der Grenze zwischen jetzigem Bundesverkehrsministerium und Naturkundemuseum die Panke (die inzwischen hier aber unterirdisch verläuft). 

Wenn man den im Folgenden beschriebenen Spaziergang unternehmen will, wird man insgesamt etwa 6-8 Kilometer zurücklegen, je nachdem, wie genau man sich die verschiedenen Orte ansehen will. Man sollte also zwei bis drei Stunden einplanen. Möglichkeiten, zwischendurch einen Kaffee zu trinken oder etwas zu essen, gibt es an der Straße genug. 





Erlaufenes 


Seit zehn Jahren gehe ich beinahe täglich die Invalidenstraße entlang, zumeist das Stück zwischen dem S-Bahnhof Nordbahnhof und der Sandkrugbrücke vor dem Hauptbahnhof. In diesen zehn Jahren ist die Straße immer wieder aufgegraben, umgeleitet und verändert worden. Die wesentliche Umgestaltung war die Verlängerung der Straßenbahnlinien vom Nordbahnhof bis zum Hauptbahnhof, die gefühlt dazu geführt hat, dass kein Stück Straßenpflaster so blieb, wie es zuvor war. In der Zeit wurden auch die neuen Bürogebäude am Nordbahnhof gebaut, Baulücken über die ganze Straße hin geschlossen, der Humboldthafen umgestaltet und neu bebaut. An der Chausseestraße konnte man sehen, wie das neue Gebäude des Bundesnachrichtendienstes, das das Gebiet eines kleinen Stadtviertels umfasst, nach und nach entstand. Jahre vorher hatte ich schon, von einem Bürohochhaus aus, zusehen können, wie der alte Lehrter Stadtbahnhof zum neuen Hauptbahnhof umgestaltet wurde. Derzeit werden im Hinterland des westlichen Endes der Invalidenstraße Bürogebäude gebaut, und bei einem Blick in die Luisenstraße sieht man, wie alte Charité-Gebäude abgerissen werden. 

Wie alle Änderungen irritiert das zunächst, aber wenn man an der neuen Ansicht ein paar Mal vorbeigelaufen ist, vergisst man schnell, wie es früher ausgesehen hat. Ich bin oft genug am Lehrter Stadtbahnhof ausgestiegen, habe aber größere Probleme mir wieder vorzustellen, wie es damals aussah; zu präsent ist nun der Hauptbahnhof. Die zahllosen Fotos, die ich im letzten Jahrzehnt von der Invalidenstraße gemacht habe, helfen auch nicht wirklich weiter. Sie zeigen eher loses Pflaster oder Weggeworfenes als ein größeres Bild. Nicht nur beim Fotografieren interessiert mich ein beiläufiges Detail immer mehr als ein weiter Überblick. Irgendwann siegt dann aber doch die Neugierde darüber, was eigentlich in und an dieser Straße alles passiert ist.


(Bau von Bürogebäuden am Nordbahnhof.)

Die Vermessung der Straße

Bei der Beschäftigung mit diesen drei Kilometern Berlin stellt man relativ bald fest, dass fast alle hundert Meter ein Schauplatz von einer Vielzahl von Ereignissen und erzählenswerter Begebenheiten war. Auch wenn die Stadtführer nur relativ knapp über die Invalidenstraße berichten, scheint es so, als habe sich zu jeder Epoche hier Wesentliches ereignet. Man kann sich der Straße geographisch nähern, von den einzelnen Orten erzählen, oder geschichtlich, die Entwicklung in den verschiedenen Epochen beschreiben. Man kann sich auch thematisch nähern. Meine Perspektive ist in erster Linie zwar die eines Fußgängers, der an den verschiedenen Orten vorbeigeht, also eher geographisch. Trotzdem eignet sich die Geschichte oder die Geschichten der Invalidenstraße nicht, von einer ausschließlich geographischen Perspektive erzählt zu werden. Um zu verstehen, muss man durch die verschiedenen Perspektiven springen. 




(Ausgegrabenes)


1 Kommentar: