Freitag, 17. Januar 2020

Exkurs - Fontanes Stine

Fontanes Stine

Auch wenn die Invalidenstraße einige Literaten beherbergt hat, findet sie sich in den verschiedenen Berlin-Romanen doch kaum wieder. Eine Ausnahme ist Theodor Fontanes Roman „Stine“, der 1888/89 erschien.
(Erne)Stine und Pauline sind Schwestern, die in der Invalidenstraße leben. Die verwitwete Pauline hat ein Verhältnis mit einem Grafen. Dieser bringt an einem Abend in die Wohnung von Pauline seinen Neffen Waldemar mit. Waldemar ist Kriegsinvalide und beginnt für die unverheiratete jüngere Schwester Stine zu schwärmen. Er besucht sie regelmäßig (im Wesentlichen, um aus dem Fenster zu sehen), als er aber feststellen muss, dass weder seine Familie noch Stine eine Heirat gutheißen würden, erschießt er sich. Die Invalidenstraße hat in dem Roman eine wichtige Funktion. Der erste Satz beginnt: In der Invalidenstraße sah es aus wie gewöhnlich: die Pferdebahnwagen klingelten, und die Maschinenarbeiter gingen zu Mittag, […]. Außergewöhnlich sei an dem Tag bloß, dass in der Invalidenstraße 98e die Fenster geputzt würden. Eine missgünstige Nachbarin, die an der Ecke Scharnhorststraße wohnt, kommentiert: „Und wenn es noch Abend wär‘, aber am hellen lichten Mittag, wo Borsig und Schwarzkoppen gerade die Straße runterkommen. Is doch wahrhaftig, als ob alles Mannsvolk nach ihr raufkucken soll: ne Sünd und ne Schand.“ Das Aufsehen rührt daher, dass Pauline die Fenster kniehoch aufgeschürzt putzt. Das Wohnhaus, in dem Pauline und Stine wohnen, muss man sich auf der südlichen Seite der Invalidenstraße, etwa gegenüber dem Naturkundemuseum vorstellen, dort gibt es jetzt noch die Nr. 98, an der Ecke der Hessischen Straße. Der weitere Verlauf des Romans verlegt die Nr. 98e aber eher gegenüber den Invalidenpark. Bei beiden Standorten ist aber nicht klar, wie die Nachbarin von der Ecke Scharnhorststraße die aufgeschürzten Röcke hätte sehen können, ganz abgesehen davon, dass es an der Ecke der Scharnhorststraße zu der Zeit keine Bebauung gab.

Die heutige Nr. 98 der Invalidenstraße

Fontane verfolgte mit der Nennung der Invalidenstraße natürlich einen anderen Zweck. Zum einen bezeichnet die Straße schon die Distanz der beiden Frauen zu ihren adligen Galanen. Die Invalidenstraße gehörte (zumindest in dem Abschnitt westlich der Chausseestraße) zwar nicht zu den rein proletarischen oder Elendsstraßen, aber wäre natürlich – jenseits der Stadttore - kein angemessener Ort für die Adligen gewesen. Die wohnen natürlich nahe Unter den Linden. Die Invalidenstraße bezeichnet also zunächst den Standesunterschied (in den Polizeiberichten der Zeit findet man tatsächlich auch Berichte von Frauen, deren Liebhaber ihnen Wohnungen in der Invalidenstraße finanzierten). Für den ersten Abend wird, da noch ein dritter Gast kommt, als weitere Teilnehmerin, auch noch Wanda, eine Schauspielerin, eingeladen. Wanda wohnt in der Tieckstraße, östlich der Chausseestraße. Man kann davon ausgehen, dass das damalige Publikum sehr genau verstand, was mit dieser räumlichen Zuschreibung ausgedrückt werden sollte. 

Fontane brauchte die Invalidenstraße allerdings auch, um den späteren Tod des Kriegsinvaliden vorzuschattieren. Waldemar und Stine schauen häufig aus dem Fenster auf den Invalidenpark. Waldemar erkundigt sich nach dem Obelisken und Stine erläutert ihm, dass es kein Grabstein sei: „Aber ein Denkmal ist es, das zur Erinnerung an die mit der Amazone Verunglückten errichtet wurde. Hundert oder mehr, und ich habe manchmal ihre Namen gelesen. Es ist rührend; lauter junge Leute.“ Waldemar geht nach diesem Gespräch zu dem Park und sieht sich den Obelisken an. Vorher heißt es, es klang so, als ob er die Toten mehr beneide als beklage. Nach dieser Szene, kurz vor der Hälfte, könnte man mit dem Buch auch schon aufhören, da dann ohnehin klar ist, wie es weitergehen wird.

Man kann feststellen, dass die Invalidenstraße Ende des 19. Jahrhunderts dem Publikum so bekannt war, dass sie als Chiffre für eine bestimmte Schicht in einem Roman genutzt werden konnte. Fontane nutzt - um die Beziehung zwischen Stine und Waldemar zu charakterisieren -  auch häufig das Bild der sinkenden Sonne, so sieht man einmal die niedergehende Sonne schon tief zwischen den zwei Türmen des Hamburger Bahnhofs hängen oder auch die Sonne über dem Invalidenpark untergehen. Inzwischen wäre eine solche Perspektive unmöglich; zur Entstehungszeit des Romans stand allerdings die Kaiser-Wilhelm-Akademie noch nicht, und man hätte wohl die Sonne zumindest auf den Bäumen des kleinen Invalidenparks gesehen. Von der Invalidenstraße aus konnte man aber schon damals die Sonne nicht zwischen den Türmen des Hamburger Bahnhofs untergehen sehen.  



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