Die Ackerstraße
Wir entfernen uns immer weiter
von der staatlich-prunkvollen Seite der Invalidenstraße und kommen in ein einfacheres Viertel.
Die Ackerstraße, die weit in den Wedding geht, war eine von der Arbeiterstraßen.
Nahe am Weinbergspark, zwischen Brunnen-, Invaliden- und Ackerstraße wurde
Anfang des 18 Jahrhunderts die Kolonie Neu Voigtland gebaut.
(Kartenausschnitt für diese Etappe.)
Wir erinnern uns:
zu diesem Zeitpunkt war hier nur der Weinberg und eine Sandscholle außerhalb
der Mauern der Stadt. In der Kolonie Neu Voigtland siedelten sich die
sächsischen Handwerker an, die in Berlin arbeiteten und ansonsten im Winter
wieder nach Sachsen gezogen wären. Von den damaligen Gebäuden ist inzwischen
nichts mehr zu sehen; die schmale Aufteilung der Grundstücke in diesem Bereich
zeugt aber noch von der früheren Kolonie. In der Ackerstraße gab es einige
Elendsquartiere. Alfred Döblin lässt nihct zufällig in seinem Roman Berlin Alexanderplatz Franz Biberkopf seine
Freundin Ida in dieser Straße ermorden.
Das Elend im Berliner Norden
blieb lange Zeit für die bessere Berliner Gesellschaft verborgen. 1904 geschah
dort ein Mord, der dazu führte, dass die Verhältnisse allgemein bekannt wurden.
Am 9. Juni 1904 wurde die achtjährige Lucie Berlin, die in der Ackerstraße 130
wohnte, vermisst. Wenige Tage später werden Leichenteile des Mädchens an
verschiedenen Stellen in der Stadt angeschwemmt; ein Bein findet man am 17.Juni
1904 an der Sandkrugbrücke. Das Mädchen wurde vor dem Tod vergewaltigt. Als
Mörder verdächtigt wird Theodor Berger, ein Zuhälter, der zusammen mit seiner
Freundin, einer Prostituierten, im selben Haus wohnte. Lucie war in der Wohnung
der beiden ein und ausgegangen. Der Beerdigungszug des Mädchens am 31. Juli
1904 beginnt beim Leichenschauhaus in der Hannoverschen Straße. Das Mädchen
wird in einem offenen Sarge von einem Pferdegespann von dort über die
Ackerstraße bis zum Elisabethkirchhof in der Prinzenallee gefahren. Es
begleitet eine Musikkapelle, dem Zug folgen nach den damaligen Zeitungsberichten
tausende von Menschen. Im Dezember folgt ein Indizienprozess mit über 100
Zeugen, der in den Berliner Zeitungen praktisch Wort für Wort berichtet wird
und der Aufschluss über die elenden Wohn- und Lebensverhältnisse in der
Ackerstraße gibt. Berger wird
verurteilt; eine wesentliche Rolle spielte dabei der Korb, in dem Teile der
Leiche gefunden wurden, und der von verschiedenen Zeugen als identisch mit
einem Korb aus Bergers Wohnung angesehen wurde. Berger, der bis zuletzt seine
Unschuld beteuert, wird zu 15 Jahren Gefängnis im Zellengefängnis Lehrter
Straße verurteilt.
Standbild aus dem Film: Das Mädchen aus der Ackerstraße
Die
Ackerstraße wurde in Berlin so zur Chiffre für Verelendung. 1920 gab es einen
Spielfilm „Das Mädchen aus der Ackerstraße“, der von der Prüfstelle mit einem
strengen Jugendverbot belegt wurde. Der Niederschrift der Verhandlung der
Filmprüfstelle Berlin vom 27.3.1924, die im Internet über das Archiv des
Deutschen Filminstituts abrufbar ist, lässt sich entnehmen, dass die Filmprüfer
die künstlerische Feinheit der Darstellung als verschärfend ansehen, als
stellenweise die sinnlich schwüle Atmosphäre durch sie noch mehr zur Geltung
komme, als dies beim weniger künstlerischen Spiel der Fall wäre. Das Publikum
war wohl ähnlicher Auffassung; der Film fand noch zwei Fortsetzungen.
Der Pappelplatz
Der Pappelplatz liegt
gegenüber der Ackerhalle. Er enthält eine rätselhafte Figur auf einem Brunnen,
ein nackter Mann, der in die Hocke geht und sich seine Hände ansieht.
Der Pappelplatz entstand 1833,
als die Ackerstraße Richtung Norden in den Wedding verlängert wurde (und die Verlängerung
zunächst Neue Ackerstraße genannt wurde). Wegen des Sophienfriedhofs entstand
zwischen Invalidenstraße und Ackerstraße ein dreieckiger Platz, der zunächst
als Marktplatz genutzt wurde.
Die Figur auf dem Brunnen, die 1912 von Ernst Wenck gestaltet wurde, soll an diese Nutzung erinnern: Sie stellt einen Geldzähler dar.
Die Figur auf dem Brunnen, die 1912 von Ernst Wenck gestaltet wurde, soll an diese Nutzung erinnern: Sie stellt einen Geldzähler dar.
Pappelplatz
Gegenüber dem Pappelplatz,
über die Ackerstraße sehen wir einen Bauzaun, davor sind noch verschiedene
Kerzen aufgestellt. Hier ereignete sich im Dezember 2019 ein Unfall, bei dem
ein Autofahrer mit überhöhter Geschwindigkeit in eine Fußgängergruppe hineinfuhr. Vier
Menschen mussten sterben.
Westlich des Pappelplatzes ist
die Mauer des Friedhofs II der Sophiengemeinde Berlin. Hier sind die Gräber von
Walter Kollo, Carl Bechstein und Carl Mampe („Mampe halb und halb“) zu finden.
Elisabethkirche
Wir sind schon fast am Ende
unseres Spazierganges angelangt. Nunmehr kommen wir endlich an einem Gebäude,
das von Karl Friedrich Schinkel entworfen wurde, vorbei. Schinkel, der
ansonsten in Berlin omnipräsent zu sein scheint, sind wir in der
Invalidenstraße bislang nur am Neuen Tor begegnet, wo allerdings nur noch 40
Meter seiner Stadtmauer zu finden sind.
Die Elisabethkirche wurde 1835
von Schinkel im antiken Stil errichtet. Der enorme Bevölkerungszuwachs vor der
Stadtmauer machte neue Kirchen notwendig. In der Nazizeit war die
Elisabethkirche – wie schon die Gnadenkirche – ein Hort der Deutschen Christen,
1936 zierte ein Transparent die Kirche: „Dass wir unsere Kirche erneuern,
verdanken wir dem Führer!“ Die
Kirche brannte 1945 vollständig aus. Inzwischen wurde sie renoviert, sie wird
für kulturelle Veranstaltungen genutzt und kann für Events gemietet werden.
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